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Grußworte ohne Floskeln

 

Heute nimmt Sie der cleartext-Newsletter mit in die Welt der
Grußworte. Auch hier kann es den Leser bisweilen gruseln.
Der Grund sind nicht Schachtelsätze, sondern wichtig klingende
Worthülsen.


Gruseltext des Monats

"Die Backnanger Kreiszeitung verkörpert beispielhaft die speziellen Vorteile einer modernen und heimatbezogenen Tageszeitung. Sie überzeugt durch Vielfalt und Aktualität, durch Kompetenz und Seriosität. Kein Wunder, dass sie sich einer so hohen Akzeptanz erfreut."

Dies schrieb der baden-württembergische Ministerpräsident Günther
Oettinger jüngst zum 175-jährigen Bestehen der Lokalzeitung meiner
Heimatstadt Backnang. Das heißt, er schrieb es vermutlich nicht selbst,
sondern er ließ es schreiben. Das Ergebnis ist blutleer und formelhaft.

Dass es auch anders geht, zeigt ein zweites Grußwort. Bundespräsident
Horst Köhler hatte 1953 als Flüchtlingskind kurz in Backnang gelebt.

"Durch die Backnanger Kreiszeitung erfahren die Bürger, was in ihrer Stadt und
in ihrer Region passiert. Was tut sich im Rathaus? Wann kommt die neue
Straße? Was gibt es Neues von der SG, was von der TSG? Auf all diese Fragen
finden Sie in Ihrer Regionalzeitung Antworten."

Ohne Worthülsen formulieren - so funktioniert es:

Auch der Bundespräsident hat sein Grußwort höchstwahrscheinlich nicht selbst
geschrieben. Aber er hatte entweder einen besseren Grußwortschreiber, oder er
hat diesen besser gebrieft: Schreiben Sie das, was die Leute betrifft. Sprechen
Sie die Kommunalpolitik an, den Straßenbau und vor allem den Sport. Schauen
Sie nach, wie die Backnanger Sportvereine heißen. Und dann nennen Sie sie.

Auch wenn dieses Gespräch so nicht stattgefunden hat: Die beiden Grußworte
könnten unterschiedlicher nicht sein. Das eine ist ein gestanzter Computertext.
Es ist abstrakt und wirkt beliebig. Das andere ist konkret und wirkt persönlich.

Auch der Blick auf die Grammatik zeigt große Unterschiede. Bei Oettinger ist die
"Kreiszeitung" Subjekt im Satz, bei Köhler sind es die "Bürger". Bei Oettinger ist
das Prädikat ein gestelztes "verkörpert", bei Köhler ein konkretes "erfahren".
Und der Bundespräsident spricht die Leser direkt an: "Sie finden Antworten".

 


Tipp des Monats

"Hauchen Sie Ihren Sätzen Leben ein" sage ich in meinen Schreibseminaren.
Und ich nenne zwei Regeln, wie dies funktioniert: "Konkret ist besser als abstrakt" und "Ein Beispiel ist Gold wert". Beide Regeln sind bei Köhler erfüllt.

Beim Schreiben heißt dies für mich: Was für Wörter stehen in meinem Satz? Sind sie anschaulich und konkret oder sind sie es nicht? Falls meine Wörter abstrakt sind: Was genau will ich hier sagen? Was heißt "heimatbezogen" bei Oettinger? Was meint er mit "Vielfalt"? Wie genau sieht "Akzeptanz" aus?

Ein Beispiel ist Gold wert. Oder eine Person, die beispielhaft für mein Thema steht. Die den Leser an die Hand nimmt und durch die Geschichte führt. Ich darf eine solche Person sogar erfinden - wenn ich dies deutlich mache.

Je konkreter ich schreibe, desto weniger laufe ich Gefahr, mich in Floskeln zu verlieren - oder als Politiker in Sonntagsreden. Backnangs Oberbürgermeister entschied sich in seinem Grußwort indes für die Abteilung Oettinger:

"Die Backnanger Kreiszeitung ist in 175 Jahren auch so etwas wie ein mediales Bollwerk geworden, das sich trotz aller Unbillen der historischen Zeitläufe und trotz des Aufkommens neuer und anderer Medien bis heute gut behauptet hat."

(PS: Falls Sie dieses Kleinod deutscher Alltagsprosa doch in Ihr Repertoire für einschlägige Anlässe aufnehmen wollen: Der Mann meinte "Unbilden".)


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